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„In unserem Volk hat die Psychologie der Unterwürfigkeit überlebt“

Kira Muratowa im Gespräch mit Eduard Steiner

redaktionsbüro: Eduard Steiner
Kira Muratowa:
- Sie kennen aus eigener Erfahrung das totalitäre System der Sowjetunion. War es ein von oben verordnetes Konstrukt oder das Werk der Menschen, die in ihm lebten?
- Das System funktionierte von oben nach unten: Höher gestellte Leute behandelten die ihnen Unterstellten schlecht. Die Sowjetbürger akzeptierten dieses System, sie ließen die Unterdrückung zu. In anderen Staaten hatte es die Bevölkerung geschafft, gegen ihre Despoten aufzubegehren, Regeln, Gesetze und Beschränkungen für die Mächtigen einzuführen, damit diese nicht willkürlich handeln können.
Unsere devote Haltung ist fast schon eine nationale Eigenheit. Nicht von ungefähr wurde in Russland die Leibeigenschaft erst spät, 1861, etwa 50 Jahre nach Westeuropa, aufgehoben. In unserem Volk hat die Psychologie der Unterwürfigkeit überlebt. Sie ist etwas Östliches, diese Lust, sich irgendeinem Zar oder Herrscher unterzuordnen.
- Als ich Sie vor sechs Jahren kennenlernte, sprachen wir über den Fortschritt. Sie tendierten damals zu der Auffassung, dass es ihn gesellschaftlich wie individuell nicht gäbe.
- Fortschritt gibt es nicht und die Mehrheit glaubt schon längst nicht mehr daran. Wie wir in verschiedenen Ländern, etwa der Ukraine, sehen, ist das mit dem angeblichen Fortschritt wie mit einem Pendel, das hin- und auch wieder schnell in die entgegengesetzte Richtung schwingt. Natürlich ist der Fall der Sowjetunion für uns momentan Lebende gut, auch für mich persönlich und ganz besonders für meine künstlerische Arbeit, die ich zu Sowjetzeiten nicht frei ausüben konnte.
Ich glaube jedoch nicht daran, dass diese Freiheit ein für allemal anhalten wird, denn der Mensch – als biologisches Wesen mit zwei Ohren und zwei Händen – ändert sich ja nicht. Länder, die sich als progressiver oder demokratischer als andere Länder brüsten, gaukeln der Welt ein Konstrukt eines klar und für ewig definierten und gültigen Gut und Böse vor. Die politische Situation kann sich in diesen Ländern aber von einem Tag zum anderen plötzlich wieder ändern, wie wir wissen. Das habe ich in meinem Leben erkennen müssen und dürfen.

- Wie stehen Sie zur „Orangen Revolution“ in Ihrer Wahlheimat Ukraine?
- Ich stehe positiv all diesen Erscheinungen gegenüber, bei denen die Leute begonnen haben selber zu denken und zumindest daran geglaubt haben, dass sie fortschrittlich agieren. Mir sind diese naiven Leute sympathisch.
- Naive Leute?
- Sie sind wirklich sympathische Wesen, weil sie im gegebenen Moment an die Kraft der Tat glauben, der die Möglichkeit der Verteidigung höherer Werte innewohnt. Naivität ist ja nicht dasselbe wie Dummheit. Wir sehen aber momentan, wie sich all ihr Bemühen in das Gegenteil verkehrt. Jede Revolution – ob blutig oder unblutig – wird von diesem Höhenflug von etwas Materiellem zu etwas Antimateriellem getragen. Das ist sympathisch, kann aber nicht lange andauern. Danach fallen wieder die Guillotinen, und die Köpfe rollen.
- Was haben Sie während der „Orangen Revolution“ getan?
- Ich mache immer ein und dasselbe: Ich filme oder ich denke darüber nach, was ich demnächst filmen werde. Was anderes mache ich nicht. Das ist meine Politik.
- Hat sich die „Orange Revolution“ schon auf die Kunstszene in der Ukraine ausgewirkt?
- Ja und nein. Politische Umwälzungen wirken sich auf die Chefetagen der Unternehmen und Ministerien aus, bestenfalls auf die Künstler, die vom Geld des Kulturministeriums abhängig sind. Neue politische Führer mischen zwar die Karten neu, aber sie spielen dasselbe Spiel. Gewöhnlich kommt es nach einer Wahl lediglich zu den bekannten Verzögerungen rein bürokratischer Natur, dann ist alles wieder wie zuvor.
Künstlerisch hat sich in der Ukraine insofern etwas geändert, als dass in den vergangenen fünf Jahren tendenziell eine Hinwendung zu Drehbüchern und Projekten beobachtet werden kann, die nationale, oft sehr national orientierte Inhalte vermitteln. Auch ist die Meinungsfreiheit in unserem Land ein erfreulicher Nebeneffekt der „Orangen Revolution“. Irgendeine ideologische Unterdrückung wie zur Sowjetzeit habe ich allerdings persönlich weder vor noch nach der Revolution gespürt.
- Welche Tendenzen sehen Sie im derzeitigen ukrainischen Filmschaffen?
- Das ist schwer zu beurteilen, weil es sehr wenige Filme auf dem heimischen Markt gibt. In Russland werden derzeit extrem viele Filme produziert, da dort auch entsprechend viel Geld im Umlauf ist. Es existiert dort sogar eine staatliche Filmförderung und man kann in Russland die Subvention von Filmprojekten auch von der Steuer absetzen. Wo viel gefilmt wird, entstehen – statistischer Wahrscheinlichkeit zufolge – viele gute Filme.
In der Ukraine gibt es keine staatliche Filmförderung. Die Filmemacher streunen bettelnd von einem Geldgeber zum anderen. Bei uns will kaum jemand Geld geben, weil Investitionen in diesen Bereich nicht steuerlich absetzbar sind. Ich persönlich kenne keinen einzigen Oligarchen, der Geld für einen Film gespendet hätte.
- Denken Sie, dass es in der jetzigen Ukraine, die ja politisch zerrissen ist, an moralischen Autoritäten fehlt, an Leuten, die gewisse Orientierungspunkte aufzeigen?
- Dass es an solchen Leuten fehlt? Im Gegenteil, es gibt viel zu viele. Alle möglichen Wichtigtuer behaupten bei uns zu wissen, was gut und was schlecht ist. Heuchler. Vielleicht brauchen die Menschen Orientierung dieser Art, wahrscheinlich bietet sie für eine gewisse Zeit sogar Hoffnung. Ich persönlich brauche das alles nicht.
- Zu Ihrem Werk: Sie meinten einmal, dass Sie unmittelbar vor Beginn des künstlerischen Prozesses eine gewisse Furcht empfinden.
- Nicht nur davor, auch während des Prozesses, ununterbrochen. Angst, Schrecken, Vergnügen, dann wieder diese Angst vor neuen Projekten. Aber das ist üblich, das kennt man ja auch von Schauspielern. Etwas zu gestalten stellt eben jedes Mal von Neuem ein Abenteuer dar, ein großes Abenteuer, das sich aus vielen kleinen Abenteuern zusammensetzt. Jeder Film ist ein immenses Risiko, alles kann passieren.
- Empfinden Sie deswegen die größte künstlerische Freiheit bei der Montage im Studio, weil sie so dem Unvorhergesehenen, der Angst davor, am besten entrinnen können?
- Im Studio bin ich ruhiger. Die Arbeit am Schneidetisch ist weniger, ja überhaupt nicht mit dem Lebenden verbunden. Die Schauspieler haben ihre Launen, werden krank, sterben. Ich habe alles schon erlebt. Auch die Natur – und die Politik! – können sich beim Drehen plötzlich gegen einen wenden. Kino, das sind Menschen, die sich streiten, versöhnen, Erwartungen haben. Man kann sich einfach nie so gut vorbereiten, dass man alles im Griff haben könnte. Ich habe mich damit abgefunden und dem sozusagen noch eine Risikokomponente hinzugefügt, indem ich gerne mit Profischauspielern und Laien zusammenspiele. Da entsteht immer dieser gewisse Funke.
- Fürchten Sie den Tod?
- Ja, denn ich glaube nicht an das ewige Leben. Wobei es nicht schlecht wäre, daran zu glauben.
- Wenn es das ewige Leben gäbe, würden Sie dann ewig filmen?
- Natürlich. Das wäre doch was.
Kira Muratowa wurde 1934 in Sorokim/Bessarabien (heute: Moldawien) geboren. Sie studierte in Moskau erst Philologie, danach Regie an der dortigen Filmhochschule WGIK. Seit 1961 arbeitet sie im ukrainischen Odessa, wo sie mit ihrem Ehemann, dem Kameramann Jewgeni Golubenko, lebt. Ihr Werk umfasst mehr als 15 Filme. Die im Westen bekanntesten sind „Das asthenische Syndrom“ (Silberner Bär, Filmfestspiele Berlin 1990) und „Drei Geschichten“ (1997). Weitere Filme: „Lange Abschiede“ (1971), „Der Versuch, die große weite Welt kennenzulernen“ (1978), „Inmitten grauer Steine“ (1983), „Zweitrangige Leute“ (2001), „Tschechowmotive“ (2002), „Brief nach Amerika“ und „Der Stimmer“ (2004).

Eduard Steiner (geboren 1968) ist für die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ in Moskau stationiert. Als Korrespondent berichtet er aus der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten und dem Baltikum.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa, August 2007
Link:REPORT online - Link: Wikipedia/ Kira Muratowa -